Vortrag von Robert M. Zoske anlässlich des 100. Geburtstags von Hans Scholl


 

Am 22.09.2018 wäre der Widerstandskämpfer Hans Scholl hundert Jahre alt geworden. Ein charismatischer junger Mann, der beeinflusst von den Gedichten Rilkes und Stefan Georges zu romantisch-idealistischem Überschwang neigte und seinen mutigen Widerstand gegen das NS-Regime mit dem Leben bezahlen musste. Das Geschwister-Scholl-Gymnasium Röthenbach hatte aus diesem besonderen Anlass Robert M. Zoske eingeladen, der den Oberstufenschülerinnen und -schülern der elften Jahrgangsstufe seine im Frühjahr erschienene Scholl-Biografie „Flamme sein! Hans Scholl und die Weiße Rose“ vorstellte.

 Hans Scholls frühe Lebenskrise

 Hans Scholl, so sein Biograph, begrüßte als Schüler die versprochene „neue Zeit“ der Hitlerjugend und träumte sogar von einer Karriere als Offizier. Noch sah er, aufgewachsen in einem liberalen, regimekritischen Elternhaus, keinen grundsätzlichen Gegensatz zwischen der nationalsozialistischen und der bündischen Weltanschauung. Es waren für ihn „zwei Seiten einer Medaille“. Doch Scholls Begeisterung für den elitären Jungenbund „dj. 1.11“ (Deutsche Jungenschaft) musste zu Konflikten mit der Hitler-Staatsjugend führen. Wie konnte er sich mit einem Staat identifizieren, der ihn zwang sich zu verbiegen und ihn daran zu hindern, seine Persönlichkeit zu entfalten?„Erst langsam wuchs die Erkenntnis der geistigen Enge“, erklärte Zoske den Schülern, „und je enger das alles wurde, desto mehr hat er sich davon abgewandt.“ Nachdem die Gestapo im Herbst 1937 gegen Hans Scholl unter dem Vorwurf, sich für die inzwischen verbotene bündische Jugend betätigt und gemäß Paragraph 175 Unzucht mit Abhängigen begangen zu haben, ermittelt hatte, trat eine Wende ein. Der Prozess wegen Homosexualität vor einem NS-Sondergericht in Stuttgart führte zu Scholls existenzieller Erschütterung und zu seiner Suche nach religiösen Bindungen. In einem Brief an seine Eltern gab Hans zu, als Sechzehnjähriger gegen den Paragraphen 175 verstoßen zu haben. Er hatte letztlich Glück und das Verfahren wurde eingestellt. Man interpretierte seine Neigung als „jugendliche Verirrung“. Als seine Mutter Magdalene Scholl, eine schwäbische Pietistin, merkte, dass Hans in eine seelische Krise geraten war, ermutigte sie ihren verunsicherten Sohn, Trost und Halt im christlichen Glauben zu finden. Der evangelische Glaube sei nach Zoske das Fundament für Hans Scholls Widerstand gewesen, er habe Luthers „Freiheit eines Christenmenschen“ gelebt. Im Protestantismus aufgewachsen, fühlte sich Hans aber auch zum Katholizismus hingezogen. Robert Zoske entdeckte von der Forschung bisher unbeachtet gebliebene Gedichte, die Hans Scholl in seiner frühen Lebenskrise 1938 verfasst hatte. Seine in Sütterlin geschriebene Lyrik aus dem Nachlass von Inge Aicher-Scholl porträtieren den jungen Widerstandskämpfer nicht nur als schwärmerischen, mystisch-spirituellen Poeten, sondern sie zeigen vor allem seine religiöse Entwicklung.

Vom mystischen Schwärmer zum Widerständler

 Im Sommer 1939 begann Hans Scholl sein Medizinstudium in München. Als Soldat und Student mit nunmehr schnell wechselnden Freundinnen gehörte er der Studentenkompanie an, deren Angehörige in den Semesterferien Lazarettdienst an der Front zu verrichten hatten. In der Studentenkompanie lernte Scholl Alexander Schmorell kennen, seinen „einzigen Freund“, wie er ihn nannte. Beide hörten regelmäßig BBC London und erfuhren so von den Massenverbrechen im Osten. Deutlich wird, wie sehr die Rundfunkansprachen von Thomas Mann die Flugblätter der Weißen Rose beeinflussten. Die ersten vier von insgesamt sechs Flugblättern schrieben und verbreiteten Hans Scholl und Alexander Schmorell zwischen dem 27. Juni und dem 12. Juli 1942. Die Appelle Widerstand zu leisten, steigerten sich im dritten Flugblatt, verdeutlichten die Mitschuld aller Deutschen, wenn sie die Verbrechen Hitlers unterstützten, und mündeten schließlich in konkreten Anweisungen für einen Regierungssturz. Widerstand wurde für Hans Scholl zunehmend zur Christenpflicht. Aus dem draufgängerischen Schwärmer war ein Aktivist geworden, der sich auf Gott und den Glauben seiner Kindheit besann, der nicht mit Waffengewalt, sondern mit Worten das Nazi-Regime bekämpfte. Seine kompromisslose, eigenwillige Devise mit einem gewissen Absolutheitsanspruch lautete: „Ganz leben oder gar nicht!“ Ohne seine „christlich-politische Zielstrebigkeit“, wie Zoske schreibt, seien Hans Scholls Widerstand und sein Freiheitsbegriff kaum denkbar. Seine tiefe Gläubigkeit zeigte sich kurz vor der Hinrichtung am 22. Februar 1943, als der Gefängnisgeistliche Karl Alt, ein gebürtiger Nürnberger, mit ihm Bibelstellen las und das Abendmahl zelebrierte. Hans Scholls letzter Satz „Es lebe die Freiheit!“ ging in die Geschichte ein.

Nach dem Vortrag war klar: Hans Scholl, der Individualist und Freiheitsenthusiast, war eine faszinierend vielschichtige, aber auch hochkomplizierte Persönlichkeit. Wer von ihm spricht, muss unterscheiden: Ist die national-konservative Lebensphase des Jugendlichen gemeint oder die des Verfassers des fünften Flugblattes (1943), in dem er als Grundlage für ein neues Europa den Freiheitsgedanken an die erste Stelle setzte.

Was von Hans Scholl bleibt, ist die Ermutigung, dass es immer und zu jeder Zeit politische Alternativen gibt und der christliche Glaube Kraft zum Widerstand verleihen kann.