Die letzten Zeitzeugen: Eva Szepesi wieder am Geschwister-Scholl-Gymnasium Röthenbach


 

Inzwischen gibt es kaum noch Zeitzeugen, die von den schrecklichen NS-Verbrechen berichten können. Eine davon ist Eva Szepesi, die jedes Jahr ans Geschwister-Scholl-Gynmasium nach Röthenbach kommt. Die 86-Jährige gehört der letzten Altersgruppe an, die den Nachgeborenen noch aus eigenem Erleben von dem Holocaust in seinen furchtbarsten Facetten erzählen kann.

Als Eva Szepesi geb. Diamant elf Jahre alt war, marschierten NS-Truppen in Ungarn ein. Evas Mutter organisierte gefälschte Papiere und schickte die Tochter zu Verwandten in die Slowakei, um sie vor der Judenvernichtung zu schützen. Das kleine Mädchen wurde von hilfsbereiten Menschen versteckt, aber schließlich doch noch gefangen genommen. Im Oktober 1944 endete Evas Flucht im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.

Kampf ums Überleben

Die Schülerinnen und Schüler der neunten Klassen hörten Eva Szepesi gebannt zu. Sie werden später einmal ihre Erinnerungen an die Zeitzeugengespräche am Geschwister-Scholl-Gymnasium weitergeben und die Leidensgeschichte der sympathischen alten Dame aus Frankfurt im Gedächtnis bewahren.

Frau Szepesi begann aus ihrem Buch „Ein Mädchen allein auf der Flucht“ vorzulesen und zu erzählen: Mit sechs Jahren wollten die anderen Kinder auf einmal nicht mehr mit ihr spielen, weil Eva Jüdin ist. Ihr Vater wurde 1942 in ein Arbeitslager verschleppt und seitdem vermisst. Als sich die Holocaust-Überlebende an die erniedrigende Prozedur bei ihrer Ankunft im Vernichtungslager erinnert, ist es sehr still im Raum: Die Gefangenen mussten sich nackt ausziehen, wurden kahlgeschoren und bekamen schließlich eine Häftlingsnummer auf den linken Unterarm tätowiert. Für das Mädchen war es damals das Schlimmste, dass ihre geliebten Zöpfe abgeschnitten wurden. Sie lernte schnell, wie man im Lager überlebt, nämlich den Mund zu halten und niemals aufzufallen. Eine Aufseherin hatte ihr vermutlich das Leben gerettet, indem sie Eva in einem unbeobachteten Moment zuflüsterte, sie solle vorgeben bereits 16 Jahre alt zu sein, da Kinder, die nicht arbeiten konnten, gleich umgebracht wurden.

Der Tag, an dem Frau Szepesi ihr Leben zurück bekam, liegt nun 74 Jahre zurück. Nachdem Auschwitz befreit wurde und das Mädchen in einem Sanatorium zu Kräften gekommen war, machte es sich im Spätsommer 1945 auf den Weg nach Budapest. Dort lebten nur noch ein Onkel und eine Tante, die das Kind bei sich aufnahmen.

Fünfzig Jahre Schweigen

Eva Szepesi überlebte und schwieg fünfzig Jahre lang. Die Erinnerungen schmerzten und ließen sie verstummen. Erst Mitte der 90er Jahre brach sie ihr Schweigen. Mitarbeiter der Shoa-Foundation riefen in Frankfurt bei Eva Szepesi an und fragten, ob sie anlässlich des 50. Jahrestages der Befreiung bereit sei, sich in Auschwitz ihren schmerzlichen Erinnerungen zu stellen. Nun war die Zeit gekommen für die Konfrontation mit dem Unfassbaren. Frau Szepesi wurde von der Jüdischen Gemeinde Frankfurt zu der Reise nach Polen eingeladen, die sie dann auch schweren Herzens zusammen mit ihren beiden Töchtern antrat. Weitere zehn Jahre vergingen, bis sie das Martyrium ihrer Kindheit in einem Buch niederschrieb. Das Schreiben half ihr, das Erlebte zu verarbeiten. „Es gibt ja keinen Friedhof, auf den ich gehen könnte, damit ich um meine getötete Familie trauern kann“, erklärte sie den Schülern. 2016 kehrte Eva Szepesi wieder an den Ort des Schreckens zurück, diesmal zusammen mit ihren Enkeln. Auf einer Liste der in Auschwitz-Birkenau Ermordeten fanden sie den Namen ihrer Familie. Jetzt erst hatte die Zeitzeugin die schreckliche Gewissheit, dass die Nazis auch ihre Mutter und Tamas, den kleinen Bruder, umgebracht hatten. Ihre Töchter haben Eva Szepesi in all den Jahren viel Kraft gegeben und sie unterstützt. Voller Stolz erzählte sie von ihrem Enkelsohn, der vor wenigen Jahren als Gymnasiast im Rahmen eines Geschichtswettbewerbs einen Film mit dem Titel „Drei Frauen, drei Generationen. Anders sein – jüdisch sein“ gedreht hatte, in dem er Großmutter, Mutter und Schwester porträtierte.

Wertvolle Erinnerungsarbeit

Aus den Worten von Frau Szepesi spricht die Sorge um die Zukunft, da die Menschen anscheinend nicht aus der Geschichte lernen. Die Zahl der rassistischen Übergriffe steigt, Gewalt und Antisemitismus haben zugenommen. Auch deshalb liest sie an Schulen und leistet dadurch wertvolle Erinnerungsarbeit, damit sich diese beispiellose Barbarei nicht wiederholt. Die Neuntklässler nutzten die einmalige Gelegenheit, der NS-Zeitzeugin viele Fragen zu stellen. Sie sind sich im Klaren darüber, dass ihre Generation die letzte sein wird, die noch aus erster Hand das vermittelt bekommt, was kein Geschichtsbuch leisten kann. Sie wissen, wie wichtig das Zuhören ist. Der Schal von Borussia Dortmund, den Frau Szepesi nach Röthenbach mitgebracht hatte, stieß bei den Jugendlichen gleich zu Beginn auf großes Interesse. Am Ende der Veranstaltung erfuhren die Schüler schließlich, dass die Zeitzeugin auch in Dortmund bei der Initiative „Nie wieder – Erinnerungstag im deutschen Fußball“ aus ihrem Buch „Ein Mädchen allein auf der Flucht“ gelesen hatte. „Es ist meine Pflicht, davon zu erzählen, solange ich noch dazu in der Lage bin. Ich gebe den Ermordeten, die nicht mehr sprechen können, meine Stimme.“, betonte Eva Szepesi. Auschwitz dürfe auch ohne zukünftige Zeitzeugen nicht aus der Erinnerung verschwinden als Warnzeichen dafür, was Menschen ihresgleichen antun können.

 

Sigrid Söldner