DDR-ZEITZEUGE GÜNTER WETZEL AM GESCHWISTER-SCHOLL-GYMNASIUM


Tollkühne Flucht in die Freiheit


Bilder, die die Welt bewegten: Der geheime Nachtflug am 16. September 1979 war eine der spektakulärsten Fluchtaktionen aus der DDR. Vor nunmehr 37 Jahren schwebten zwei Familien in ihrem selbstgebauten Heißluftballon wagemutig über den Eisernen Vorhang von Thüringen nach Bayern.

Um dem unüberwindlichen Stacheldraht, den Minen und Selbstschussanlagen zu entgehen, hatten die Familien Wetzel und Strelzyk diesen extrem gefährlichen Plan ersonnen. Ein Magazin, das ihm eine Verwandte aus dem Westen gab, brachte Günter Wetzel, geboren 1955, auf die Idee, die DDR auf dem Luftweg zu verlassen. Anderthalb Jahre waren nötig um die Flucht vorzubereiten: In 27 Städten von Rostock bis Gera kauften sie ca. 1200 Quadratmeter Taftstoff und Nylonseile und nähten nachts in mühevoller Arbeit die Ballonhülle zusammen. In abgelegenen Waldstücken experimentierten die beiden Männer mit dem Brenner, der den nötigen Auftrieb für den Flug liefern sollte. „Den Korb“, so Wetzel, „bauten wir aus Winkeleisen, einer Blechplatte, vier Stangen an den Ecken und Wäscheleinen, die als Geländer dienten“. Als er selbst noch Schüler war, so erzählte der Zeitzeuge der versammelten elften Jahrgangsstufe des Geschwister-Scholl-Gymnasiums, hatte er sich seine Zukunft ganz anders vorgestellt. Der findige Konstrukteur des Heißluftballons wollte einmal Physik studieren, aber man sagte ihm in der DDR, dass er sich keine Hoffnungen auf einen Studienplatz machen solle, da sein Vater sich noch vor dem Mauerbau in den Westen abgesetzt hatte.

Ein erster Fluchtversuch drei Monate zuvor endete für die Familie Strelzyk 200 Meter vor dem Grenzzaun mit einer Bruchlandung. Am 15. September war es dann wieder so weit. Der Wind wehte stark genug in Richtung Westen und die Familien fuhren in den Thüringer Wald um die gefährliche Aktion zu wagen. Das thüringische Pößneck war im Jahr 1979 eine Stadt mit ca. 20 000 Einwohnern, das oberfränkische Naila mit 7000. Etwa 60 Kilometer trennten die beiden Kleinstädte voneinander. Fast kam es beim Start zur Katastrophe, als die Hülle Feuer fing. Auf der zwei Quadratmeter großen selbstgeschweißten Plattform drängten sich in der mondhellen Nacht vier Erwachsene und vier Kinder im Alter von 2 bis 15 Jahren um die Gasflaschen. Nach einer knappen halben Stunde, als sie mit dem Ballon bei eisiger Kälte eine Flughöhe von über 2000 Metern erreicht hatten, war das Gas plötzlich verbraucht. Der Ballon begann zu sinken. Nach der unsanften Landung mit dem größten Ballon, der jemals gebaut wurde und den Schutz eines Fallschirms besaß, quälte sie die bange Frage: Waren sie im Westen oder noch auf DDR-Gebiet? Die beiden Frauen versteckten sich mit den Kindern im Gebüsch, während die Männer die Gegend erkundeten und dabei auf eine bayerische Polizeistreife stießen. Sie waren tatsächlich in Naila gelandet, wo der bunte Ballon heute noch im Heimatmuseum zu sehen ist. Wie durch ein Wunder blieb die Flucht unentdeckt. Keiner hatte etwas gemerkt: Weder die Grenztruppen der DDR, die auf eine Ballonflucht nicht vorbereitet waren, noch die Luftsicherung der Bundeswehr.

Zwei ganz normale DDR-Familien hatten das SED-Regime vor aller Welt bloßgestellt. Bei der Landung zog sich Günter Wetzel eine Verletzung zu und musste für eine Woche ins Krankenhaus, weshalb er von dem unmittelbaren Rummel nichts mitbekam. Die Medien stürzten sich gleich auf die Geschichte der Flüchtlinge aus Pößneck. Hollywood machte sogar einen Kinofilm daraus, der aber, so Wetzel, nicht ganz der Realität entsprach. „Mit dem Wind nach Westen“ endet mit der glücklichen Landung der Familien in der Bundesrepublik Deutschland. Im wirklichen Leben ließ ihnen die Stasi bis zur Wiedervereinigung keine Ruhe. Sie hatte die Republikflüchtlinge auch im Westen überwacht und versucht Wetzel über Freunde und Verwandtschaft wieder in den Osten zu locken. Gefragt, ob der Zeitzeuge denn damals keine Angst hatte, räumte er ein: „Ich würde es nach heutigem Wissensstand nicht mehr machen. Ich hatte nämlich keine Ahnung, wie gefährlich das Unternehmen tatsächlich war.“ Und er fügte hinzu: „Wir hatten wahnsinnig viel Glück.“ Glück, das Verlangen nach Freiheit, eine hohe Risikobereitschaft und akribische Planungen ließen die tollkühne Flucht gelingen, die heute ein Stück deutsch-deutsche Geschichte schreibt.